Bengt Claasen sitzt im Auto, sein ganzes Hab und Gut im Kofferraum. Vor sich, auf dem Armaturenbrett, liegt das Halsband seiner verstorbenen Hündin. Dort, wo es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen. Er fährt so langsam und vorsichtig, wie es nur geht, und landet schließlich in Zandschow – einem Nest im äußersten Norden mit einem Feuerlöschteich im Zentrum. Schnell stellt er fest: Die Bewohner des Orts rund um »Getränke-Wolf« folgen einem strengen Wochenplan, donnerstags werden zum Beispiel zwanzig Plastikschwäne auf dem Teich ausgesetzt, und sie feiern an ihrer »Lagune« Festspiele unter künstlichen Palmen. Überhaupt: Mit den prekären Verhältnissen mitten in der Pampa finden sich die Menschen hier nicht mehr ab. Ihr Zandschow ist Sansibar, hier kann man arm sein, aber trotzdem paradiesisch leben, in viel Verrücktheit.

Mit unbändiger Fantasie und viel Witz erzählt Thomas Kunst in Zandschower Klinken von einer solidarischen Gemeinschaft, die sich am eigenen Schopf aus der Misere zieht – trotzig und stur, frei und eigensinnig. Er entwirft eine Utopie in unserer globalisierten Gegenwart und findet für sie eine Sprache von bezwingender Musikalität.

Pressestimmen (online)

Marion Hinz, Kultur Port.de, 04.10.2021

Ein rauschhafter Roman, der Grenzen überschreitet!

Carsten Otte, taz, 15.02.2021

Thomas Kunst hat eine vertrackt versponnene Aussteigergeschichte geschrieben. „Zandschower Klinken“ beschwört eine renitente Provinz-Identität.

Frank Meyer, Deutschlandfunk Kultur, 19.02.2021

Schräger Aussteigerroman mit dadaistischem Beat und einer Schlagseite in Richtung Prosagedicht: „Zandschower Klinken“ von Thomas Kunst.

Rainer Moritz, MDR, 23.02.2021

“Zandschower Klinken”: Verworren-unterhaltsamer Roman des Leipziger Autors Thomas Kunst

Cornelia Geisler, Berliner Zeitung, 05.03.2021

Ein Reh fährt Taxi, am Feuerlöschteich gibt es Bier aus Sansibar: Thomas Kunst erzählt eine Aussteigergeschichte, anstrengend und anregend.

Matthias Schümann, NDR, 05.03.2021

Zandschow liegt irgendwo in Norddeutschland

Terrance Albrecht, WDR, 09.03.2021

Thomas Kunst ist in “Zandschower Klinken” ein Buch gelungen, das seine Leserinnen und Leser aus der Welt der Globalisierung mitnimmt auf eine fantasievolle Reise deren Beginn an einem Dorfteich liegt.

Roman Lach, Zeit Online, 17.03.2021

Erst sieht es aus wie Ostdeutschland, und dann ist es doch die ganze Welt: In seinem Roman “Zandschower Klinken” erfindet Thomas Kunst die Avantgarde neu.

Uwe Schütte, Wiener Zeitung, 02.05.2021

Fantastische Prosawelt: “Zandschower Klinken” von Thomas Kunst

Thomas Schaefer, junge Welt, 22.04.2021

Wild und eigensinnig: Thomas Kunsts Roman »Zandschower Klinken«

Cornelia Geißler, Frankfurter Rundschau, 05.03.2021

„Zandschower Klinken“: Thomas Kunst erzählt eine Aussteigergeschichte aus dem abgehängten Osten, anstrengend und anregend.

Pressestimmen analog

Steffen Georgi, Leipziger Volkszeitung, 17.04.2021

Wenn alles passt: Thomas Kunst gelingt mit “Zandschower Klinken” ein fulminanter Roman

In seinem Roman “Zandschower Klinken” erschafft der Leipziger Schriftsteller Thomas Kunst ein Kaff als Sozialbiotop des Skurrilen, einen Archipel selbstgenügsamer Leistungsverweigerer. Dieser Roman pfeift auf die Zwänge literarischer Konentionen. Mit Bravour!

Die Liebe ging dahin, natürlich zu einem Anderen. So wie der treue, aber eben auch alte und kranke Hund, den Tod fand. Und alles, was einen an einen Ort und ans Dasein dort bindet, ist plötzlich inexistent. Was also tun, wenn einen nichts mehr hält? Bengt Claasen steigt einfach ins Auto und fährt auf und davon. Und das in einem recht gewöhnungsbedürftigen Stil, der allerdings einen ähnlich triftigen Grund hat, wie dieser Abschied insgesamt.

„Zandschower Klinken“ heißt der neue Roman von Thomas Kunst, der wie alle Romane dieses Autors ja nur bedingt als Roman zu bezeichnen ist. Gilt auch für „Strandkörbe ohne Venedig“, jenem sich selbst „eine Romanresignation“ nennenden Literaturhybriden, in dem 2009 dieser auf seltsame Art traurig-komische Bengt Claasen schon einmal seinen entsprechend seltsam traurig-komischen Auftritt hatte.

Was das nun angeht, ist der Mann sich auch in den „Zandschower Klinken“ treu geblieben. Zum Glück! Beginnt schon damit, wie Claasen seinem alten Leben davon und seiner Zukunft entgegenfährt: Sein weiteres Schicksal nämlich der Fliehkraft und dem Halsband seines toten Hundes anvertrauend. Letzteres platziert Claasen auf dem abschüssigen Armaturenbrett seines Wagens. Wo es von diesem, so der Plan dahinter, irgendwann im Laufe der Fahrt zu Boden fallen wird, gilt es ein neues Leben zu beginnen. Zum Leidwesen anderer Verkehrsteilnehmer, versucht Claasen dabei seine Zukunft wenigstens etwas zu manipulieren. Im arg gemächlich zuckelnden Tempo mit garantierter Stauwirkung, schafft er es bis nach Zandschow, ein Örtchen irgendwo in der Pampa des hohen Nordens. Fliehkraft und Hundehalsband meinten es gut: Einen besseren Platz hätte einer wie Claasen nicht finden können.

Entfaltet Kunst doch fortan dieses Zandschow als nichts weniger als einen Utopie-Ort. Zeile für Zeile entpuppt sich dieses Kaff als Sozialbiotop des Skurrilen, als anarchischer Archipel selbstgenügsamer Leistungsverweigerer, die die Gepflogenheiten der Leistungsgesellschaft zum Gaudi ritualisierter Sinnfreiheit umstülpen.

Wie, das schildert Kunst in mitunter zum Brüllen komisch-absurden Passagen. Da drängeln sich Zandschower in einem ausrangierten Bauwagen, an dem von außen andere Zandschower beherzt rütteln (zwecks spielerischer Erweckung jener Rush-Hour-S-Bahn-Wirklichkeit, die man hier freilich längst schon hinter sich gelassen hat). Oder man nutzt das entspannte Wippen aufblasbarer Schwäne auf dem Dorfteich als Vorlage für entspannende Tai-Chi-Übungen. Das Gemeinschaftsleben bündelt sich bei Getränke-Wolf, der zugleich der heimliche Zandschower Leitwolf ist, und für seine Kunden neben afrikanischen Bieren auch die Möglichkeit zum wohligen Dösen auf der Sonnenbank Sansibar bereithält.

Zandschow ist die kleine Welt, die der großen Welt den Finger zeigt und sich ansonsten nicht groß um sie schert. Aber bevor Kunst das zum Selbstzweck gerät, das Buch der Verlockung erliegt sich erzählerisch mit einem Bier auf der sozialromantischen Sonnenbank auszustrecken und es gut sein zu lassen, öffnet sich die Perspektive. Geographisch bis zum echten Sansibar in Afrika oder nach Cartagena an der kolumbianischen Karibikküste. Und erzählerisch zu einer Rotation expandierender Motive und Handlungsstränge, die wie in einer immer aberwitzigeren Spirale samt rhythmisierenden Wiederholungen um den Leser zirkulieren und sich dabei unbekümmert aller nur möglichen Freiheiten des Fabulierens und Phantasierens bedienen.

Ein deutsches Reh, das in Cartagena Taxi fährt, Piraten aus TV-Serien der 70er Jahre, der Brief eines sansibarischen Revolutionärs an Markus Wolf (für irritierende Momente sieht man Getränke-Wolf mit anderen Augen), eine schwierige Bruder-Schwester-Liebe oder die graue Tristesse in einem Altenheim: All das und noch viel mehr geht hier ganz selbstverständlich zusammen, denn so spielerisch, wie die Zandschower auf gesellschaftliche Zwänge pfeifen, pfeift dieser Roman auf die Zwänge literarischer Konventionen.

„Kommt mir bloß nicht blöde. Das passt schon alles!“ ist die diesbezüglich klare Ansage, die Kunst immer wieder mal in seinem Buch repetiert. Und tatsächlich passt hier ja alles. Weil, wenn auch oft in wilden Windungen und Sprüngen, ein Erzählmotiv ganz plausibel aus dem anderen wächst. Und weil Kunsts Fabulieren und Phantasieren auf einer Tiefenströmung treibt, die von Erfahrungen der Einsamkeit und des Verlustes kündet. Jenes „brauchbare Vorgefühl auf den Tod“ umkreist, von dem in einem dem Buch vorangestellten Zitat des amerikanischen Autors John Cheever eindringlich die Rede ist.

Denn so hinreißend komisch Kunsts Roman oft ist, so traurig ist er doch auch. Der tragikomische Irrwitz menschlicher Existenz wird erweckt als ein tragikomisch irrwitziges Stück Literatur. Und was deren substantiellen Kern in den „Zandschower Klinken“ ausmacht, sei hier, da ja nun schon Getränke- und Markus Wolf ihren Auftritt hatten, einfach mal mit Wolf Wondratschek gesagt: „Es ist die Sprache, die etwas will, und zwar erweckt werden; und das von einem, der ihr etwas zutraut und nichts besser weiß, als sie.“ Thomas Kunst ist so einer. Die „Zandschower Klinken“ zeigen es mit Bravour.

Thomas Kunst „Zandschower Klinken“,

Suhrkamp Verlag, Gebunden,

254 Seiten, 22,70 Euro


Rheinpfalz, 13.05.2021

“Magische Aufenthaltsgelassenheit: „Zandschower Kliniken” von Thomas Kunst  

Man darf sich seine Lieblingshelden aussuchen, die Romanhandlung nach eigenem Gutdünken vorantreiben und es gibt sogar verwegen „Raum zum Einkleben Ihres vollschlanken Lieblings-Pin-ups”: Der „Lexikon-Roman” des Österreichers Andreas Okopenko (1930-2010) war eine wilde, lustige Sache. Er erschien 1970, in einer Zeit als sowohl das avantgardistische Schreiben – Konkrete Poesie u.a. – passé war als auch das „Ende der Erzählens” anstand. Experimentiert wird nach wie vor nicht mehr, erzählt hingegen ungebrochen. Die formelle Mutlosigkeit ist nichts, was einem wie Thomas Kunst gefallen könnte, vom Konventionellen hat sich der 1965 in Stralsund geborene, in Leipzig lebende Autor mit seinen in kleineren Verlagen publizierten Prosatexten und Gedichten schon immer abgegrenzt. Seit er 2017 mit dem Gedichtband „Kolonien und Manschettenknöpfe” Suhrkamp-Autor wurde, erreicht er mit seiner Eigenart auch ein größeres Publikum. Kein Wunder, dass die Okopenko-Lektüre mehrfach in Kunsts neuem Roman „Zandschower Klinken” empfohlen wird, nicht nur deshalb würde Okopenko dieses Buch gefallen, dessen Schrägheit aus seinem Geiste ist, aber auch aus dem von Dada oder Absurdem Theater: „Im Südharz geht das Nichtstun in die Breite.” Die „Story” handelt von einem gewissen Bengt Claasen, der in einem norddeutschen Ort namens Levenhaug gelebt hat, wo ihn nichts mehr hält. Offensichtlich hat er sowohl seine Lebensgefährtin als auch den Hund verloren. Mit dessen Halsband macht sich Claasen auf den Weg, er legt es aufs Armaturenbrett seines Autos, und da, wo das Halsband vom Armaturenbrett herunterrutscht, will Claasen anhalten und sich niederlassen. Das ist dann Zandschow, ein Kaff ganz im Norden, an der A7 gelegen. Es ist ein Ort mit einem Feuerlöschteich, der eine zentrale Rolle einnehmen wird, u.a. als Indischer Ozean, es gibt den Getränkehändler Wolf, der nicht nur am See Festivitäten ausrichtet, sondern für die Bewohnerschaft einen „strengen Wochenplan” erstellt, um ihrem Dasein „Struktur und Würde zu verleihen”. Freilich sind zuverlässige Plot-Elemente und Aussagen, an die man sich klammern kann, rar gesät: Es geht um die „magische Aufenthaltsgelassenheit” der Dorfbewohner, die sich den Zwängen der modernen Leistungs-, Konsum- und Verwertungsgesellschaft verweigern. Es gibt Hinweise auf Eltern und Schwester des Helden, den es mal nach Sansibar und Kolumbien verschlagen haben mag, der Taxifahrer gewesen sein könnte, in erster Linie aber ein unzuverlässiger, unglücklicher, zudem beschäftigungsloser Kantonist ohne Perspektive ist: „Bengt Claasen hielt die Stellenangebote in seiner Region für beleidigende Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den poetischen Bemühungen seiner dünnhäutigen, aber leidlich unakademischen Biographie.” Voller Motive, Anspielungen und Verweise steckt das Buch, es zitiert das Märchen, den Reise- und Entdeckerroman, triviale Mythen, Popmusik und Sport. Ob der literarische Mummenschanz, die wortwörtlichen Wiederholungen ganzer Passagen zum Beispiel, ein ganzes Buch trägt, Running Gags wie die immer wieder gestreute Formel „in umgekehrter Reihenfolge”? Manchmal zieht sich das Ganze doch ein wenig. Leseempfehlung: Man lasse sich auf den Text ein, indem man sich an dessen Oberfläche treiben, ihn in seiner Musikalität und erfinderischen Zauberkraft wirken lässt. Und man mache Halt bei den vielen originellen Sequenzen, die an Ionescos „Kahle Sängerin” erinnern oder an Handkes „Über die Dörfer”: „Wir erfinden eine Dynastie der Fehlbarkeit. Wir lassen mit einem Gedicht die Mittagspause der Regierung ausfallen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass unser Dasein nicht ernst genommen wird. Wir stehen ausschließlich in Kontakt mit denen, die uns nicht mehr nützlich sind.” Wenn er nur dieses subversive Manifest enthielte: Der Roman „Zandschower Klinken” hebt sich erfrischend von den bitterernsten Tönen der heutigen Literatur ab, er ist autonom, schräg, komisch und ernsthaft. Auch sein Publikum nimmt er ernst, denn er traut ihm zu, so eigensinnig zu lesen, wie er geschrieben ist.”


Oliver Jungen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Besprechung von 14.09.2021

Die Wolfsträume der Rehe
Utopia zum Aufblasen: Thomas Kunst inszeniert in seinem Roman “Zandschower Klinken” die Heimkehr eines Verlorenen als Triumph

Zandschow, wie das schon klingt. Wie das Gegenteil von Poesie. Wie ein gezackter Blitz, der vielleicht bloß ein gemalter ist. Wie Sancho in Sancho Panza. Und tatsächlich sind es Gestalten wie der im windschiefen Schatten des in der Tradition erstarrten Aristokraten Don Quijote reitende Gehilfe mit seinem nur scheinbar naiven, der Realität frech ins Auge blickenden Schalk-Mut, die dieses Dorf im Hinterstmecklenburgischen, das sich selbst zum Paradies zu erheben wagt, bevölkern. Teschi, Dettel, Digger, Mimi, zwei Graboschs (einer schleppt einen ererbten Kronleuchter mit sich herum), Pampel, Körperchen, der Erzähler Bengt Claasen: Über sich selbst hinausträumende Zandschow Panzas sind es allesamt, die sich mit Plastikpalmen, Badeschwänen und Ritualen wie dem Übersetzen zur Insel im Feuerlöschteich so etwas wie eine vielleicht bloß gemalte Aussteiger-Utopie geschaffen haben, ein eigenes Sansibar: “Wir haben uns angewöhnt, sowohl die Frauen als auch die Männer, an den Tagen, an denen wir dazu neigen, den Indischen Ozean mit unseren Füßen zu betreten, den Indischen Ozean in Zandschow mit unseren Füßen zu betreten.” In diesem trotzigen Angewöhnen steckt schon einiges von der Tragik und dem Übermut einer DDR-Gegenkultur, die gegen das graustumpfkalte Reale im Sozialismus anfieberfantasierte, bis sie nach der Wende zu Tode kuriert wurde.

Den Nukleus dieses Paradieses, das sich leicht mit allen anderen (Schein-)Paradiesen in Afrika, Asien oder Südamerika kurzschließen lässt, aber eben auch eine bierselige, dadaistische Laune darstellt, bildet ganz richtig und ziemlich lustig ein Getränkeladen, geführt von einem ominösen Herrn Wolf. Ob es sich um einen in den merkantilen Schafspelz gewickelten Nachfahren des bösen Wolfs handelt, Markus mit Namen, der hier in einem der vielen Zeitsprünge seinen Auftritt hat, als er 1964 dem sozialistisch gewordenen Sansibar seine Stasi andienerte, bleibt unklar. Zumindest verfügt der “Getränke-Wolf” über zwei Sklaven. Und er hatte eine große Idee, die nämlich, neue Etiketten für billiges Supermarktpils zu drucken, um exotische, in die Ferne verliebte Biere wie Mongozo Palmnut anbieten zu können. Treffend absurd umkreist der Roman in köstlichen Beschreibungen diesen Dreh- und Angelpunkt des Dorfes, der so auch für die Leser allmählich zum Mittelpunkt der Welt wird.

Es ist ein rotierendes, evolvierendes, lyrisch-litaneihaftes Erzählen zwischen Groteske, Elegie und postmodern umgebogenem Abenteuer-Stil, das der Autor und Dichter Thomas Kunst hier auf die Spitze treibt, sprachlich eine lockere Zwangsehe von Sarah Kirsch und Stephan Remmler, poetologisch bei der Hand genommen von den Paten Bernard Malamud und Andreas Okopenko. Mit seinen endlos scheinenden Wiederholungen – viele Passagen liest man kaum variiert ein Dutzend Mal – schmiegt sich der Ton dieser mal zärtlichen, mal aufstampfend politischen Selbstermächtigungsposse (die angestrebte “Dynastie der Fehlbarkeit” ist durchaus eine Abrechnung mit dem sozialistischen Imperativ: “Die Idee von der Auslöschung des Einzelnen ist mehr wert als die Bewunderung der ganzen Welt”) dem von der Hypernervosität innovationsversessener Zentren verschonten Rhythmus einer provinziellen Not-, Brot- und Bettgemeinschaft an. Es findet auf allen Dörfern eben jedes Jahr ein Schützenfest statt, auf dem feste Rituale gepflegt und exakt dieselben Anekdoten erzählt werden. Hier ist es, frech ins Kosmopolitische verschoben, das Darajani-Fest. Just darin eine bewohnbare Utopie zu erblicken, die Rettung für einen an der Seele Versehrten, hat enormen Reiz.

Angeknackst ist der Held in mehrfacher Hinsicht. Soeben ging eine Beziehung in die Brüche, da blieb nur die Flucht nach vorn. Wo ihm das Hundehalsband vom Armaturenbrett rutsche, da werde er ein neues Leben beginnen, erklärt Bengt zu Beginn feierlich, aber auch das ist nur scheinbare Naivität, denn sogleich hilft er nach. Angekommen unter den Nichtangekommenen, singt er das Lied von der stolzen Verweigerung: “Die meisten beziehen Stütze. Wir kriegen die Zeit trotzdem rum.” So wächst ihnen ein Zuhause zu: Was wir vor uns haben, ist im Kern verwilderte Heimatliteratur, die Fantasie einer Rückkehr. Der heilige Flecken muss schließlich durch Bürgerwehren verteidigt werden gegen Städter, die in hippen Zeitschriften von der abgelegenen Hängematten-Idylle gelesen haben.

Da ist aber auch noch eine tiefere Verletzung Bengts, ein kopfzersprengendes Kreisen um das Verstoßenwerden durch den Vater, der eben dieser Vater wohl nicht war (die Mutter hatte eine sehr lange Taxifahrt unternommen), und die wie zum Ausgleich “ungezügelte Liebe” der Mutter. Der Vater liebte nur die jüngere (Halb-)Schwester. Die Ausweglosigkeit dieses Gedankenstrudels ist in der gewählten Form perfekt abgebildet. Erdolcht wird dabei jede einengende Märchenmoral, wenn etwa eine Variation von “Brüderchen und Schwesterchen”, die wie ein glitzernder Faden in die Erzählung eingewebt ist, sich zu einer bitteren Klage des zum Reh verwandelten Brüderchens ausweitet. Es verflucht, nicht von den ersten beiden Quellen gekostet zu haben, Tiger oder Wolf geworden zu sein, denn ein schwesterlich am Halsband geführtes Leben, bei den Grimms ein Hoffnungsschimmer, ist eben ein erniedrigtes. Das Reh aber, in dem man wohl Bengt erkennen darf (ganz deutlich wird das nicht), macht hier seinen Weg, geht nach Kolumbien (oder Zandschow), erobert sich seine Herkunft zurück, indem es selbst zum Taxifahrer wird: “Man muss ja sehen, wo man bleibt.”

Orte verschwimmen bei Thomas Kunst ebenso wie Zeitstufen und Figurenperspektiven: ein faszinierender Tanz auf der Grenze des Lesbaren. Die nicht zu bestreitende Verwirrung, ja, Wirrnis wirkt wie ein Schutzzauber vor falscher Geradlinigkeit und erinnert an die den Zugriff unterlaufende, subversive Fabulierlust in der jüngsten totalitären Epoche, für die etwa der sprachmächtige Ulrich Zieger steht. Der satirische Witz ist bei Kunst allerdings noch wuchtiger, reicht ins Parodistische, wenn etwa ein Schwanenrennen auf dem Feuerlöschteich die doppelte Unzulänglichkeit des Sozialismus vor Augen führt: Zunächst gibt es Aufregung, weil die Teilnehmer nicht glauben wollen, dass die angeschafften Plastikschwäne wirklich gleich sind, also dieselben Chancen haben. Und als eben das gesichert ist, geht alles im Chaos unter, weil vom Ufer aus niemand die identischen Schwäne auseinanderhalten kann. Alle beanspruchen nun die führenden Exemplare für sich.

In einer von Klartext, Emphase und Appellen dominierten Gegenwartsliteratur ist ein derart verrätselter, verspielter, atmosphärischer Roman, der gerade in seiner narrativen Rücksichtslosigkeit dem Schwanengesang einer gesellschaftlich heimatlosen Schicht der Abgehängten so viele historisch unterfütterte, nachdenkliche Assoziationen über das Gelingen des Lebens – das Glück liegt selten in der Ferne, dort fließt vor allem Blut – abgewinnt, eine willkommene Anomalie. Das trunkene Schwelgen in Bildern und eine eher an Musikvideos erinnernde Schnitttechnik mag manche Leser verschrecken. Es könnte aber gut sein, dass man unserer in gruselige Kollektive zerfallenden Welt (sagen wir: zwischen Donald Trump und den Taliban) mit einer sich lustvoll zum Absurden hin öffnenden Literatur besser beikommt als mit jeder realistischen Sozialprosa. “Zandschower Klinken” ist denn auch sehr zu Recht in die engere Auswahl um den Deutschen Buchpreis gekommen. Darauf ein DjuDju Banane, auch wenn es verdächtig nach einem ultrabilligen Maternus Gold schmecken sollte. OLIVER JUNGEN, Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2021

Thomas Kunst: “Zandschower Klinken”. Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 256 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main