Der in Leipzig lebende Thomas Kunst hat den längst verdienten Durchbruch als Lyriker geschafft

Ulf Heise, LVZ,  21.09.2017

Seit er 1991 mit dem Band „Besorg noch  das  Segel  für  die  Chaussee“  bei  Reclam debütierte,  galt  der  Leipziger  Thomas Kunst als Geheimtipp für Lyrikfans. Trotz einer Vielzahl von kühnen Büchern, die er danach  veröffentlichte,  ließ  die  Anerkennung  auf  sich  warten.  Als  er  2004 den F.-C.-Weiskopf-Preis  der  Berliner  Akademie der Künste erhielt, schien sich das Blatt für ihn endlich zu wenden.

Die renommierte Frankfurter Verlagsanstalt druckte einen Querschnitt seiner Strophen, doch die Kritiker reagierten großenteils mit Schweigen auf die Publikation. Erst 2014 kam mit dem Meraner Lyrikpreis  der  Durchbruch  für  Thomas  Kunst.  Dank dieser Trophäe glückte ihm nun mit seiner  jüngsten  Gedichtsammlung  der Sprung zum Suhrkamp Verlag. Dieser Aufstieg ist ihm absolut zu gönnen, denn seine Verse  schwingen  von  exotischer  Melodik.  Sie  sind  durchdrungen  von  jenen  Rhythmen,  die  der  Schriftsteller  zum  Arbeiten braucht wie die Luft zum Atmen.

Zahlreiche CDs von Gegenwartskomponisten dienten ihm  als  „unabdingbare“  Inspirationsquellen.  Besonders  beflügelte  ihn  das  Album „Overlays  From  The  Cistern  Chapel“  von Stuart  Dempster.  Die  „total  entrückte Musik“  des  Amerikaners  trieb ihn beim Schreiben „in völlig entfernte Erdteile“.  Solch  eine  Gegend  ist  der  Archipel Melanesien  im  Pazifischen  Ozean,  eine andere der Staat Malawi in Südostafrika.  Aber diese fremden Orte gaukelt Thomas Kunst den Lesern mit gewagter Wortakrobatik nur vor, um ihn danach  rigoros in deutsche Provinzstädte zu verpflanzen, sei es  nach  Burgwedel,  wo  Ex-Bundespräsident Christian Wulff wohnt, oder an eine Tankstelle in Delitzsch. Er  ködert die Leser mit den Kulissen von New York, katapultiert  sie  dann  jedoch  mit  einem  frechen Sprachsalto in den Markkleeberger Agra-Park. Damit entpuppt er sich als Meister des Täuschungsmanövers,  der gern falsche Fährten auslegt.  Gleich einem Magier wechselt er die  geografischen  Räume.

Aber sein Talent beschränkt sich nicht allein auf diesen Zaubertrick.  Thomas Kunst  vermag  es  wie kein Zweiter,  mit einer Mischung aus Ironie und Melancholie die gefährdete Position des Lyrikers im modernen  Medienbetrieb  zu  beleuchten:  „Bevor ein Buch erscheint, wird ausgerufen,/  Wer  saisonaler  Liebling  wird  und wie./ Die Wissenschaft kommt immer gut,  doch nie/ Ein neuer Dichter ohne Lebensstufen.“

Thomas  Kunst pocht zu Recht darauf, kaum über Idole zu verfügen. Seine Strophen wachsen aus ihm selbst heraus, nur äußerst selten entzünden sie sich an Texten von Kollegen. Der Einzige, dem er starken Einfluss auf sein Werk einräumt,  ist der 1989 verstorbene Donald Barthelme, der zu den Leitfiguren der postmodernen Literatur in den USA gehörte.

Rezensenten kreideten Thomas Kunst wiederholt an, dass er sich auf einen derart kecken Avantgardisten beruft und trotzdem weiterhin auf der Klaviatur  des  althergebrachten  Sonetts spielt. Doch dieser Vorwurf erweist sich als völlig unbegründet, denn der Autor füllt diese traditionsreiche Reimform im vorliegenden Gedichtzyklus mit Themen, die den klassischen Rahmen durch ihre Bannkraft sprengen. In seinen freien Metren zeigt sich Thomas Kunst raffiniert und  nachdenklich. Eindringlich beschwört er etwa Bilder der Flüchtigkeit  des  Augenblicks  herauf:  „Alles nur eine Sache von Sekunden./ Die Wochen mit Blut im Urin./ Das Zähneputzen in der Küche./ Die Mitschuld der Glühbirne/ Im Flur vor der Toilettentür.“

An etlichen der neuen Poeme von Thomas Kunst sticht der erzählerische Charakter ins Auge. Der Autor möchte darin wie schon Charles Baudelaire kleine Geschichten präsentieren. Einige dieser bewegenden und emotional aufgeladenen Langgedichte fallen durch eine Besonderheit auf:  Sie sind als Briefe gestaltet, die sich an den renommierten Romancier Feridun Zaimoglu  richten,  den Thomas Kunst charismatisch als seinen engsten Freund und Vertrauten würdigt.