Tomas Gärtner, Dresdner Neueste Nachrichten, 16.09. 2015
Thomas Kunst ist durch und durch Dichter, mit äußerster Konsequenz. Da kann es einem dann passieren, man geht zur Premiere seines neuen Romans ins Kultur-Haus Loschwitz – und erlebt etwas, das so ganz anders ist, als man es sich vorgestellt hat. Den Titel „ Freie Folge“ dürfen wir programmatisch nehmen. Das Buch kann zum Leseabenteuer werden. Ungewöhnliche Literatur, das sagt man so hin, verlange dem Leser einiges ab.
Was nach Anstrengung klingt. Bei diesem Buch braucht der Leser das Gegenteil: Gelassenheit. Man hat ja Erwartungen. Selten wird einem das so bewußt wie hier. Man kann dann probieren, sie aufzugeben. Die Erwartung zum Beispiel, ein Roman sollte eine Art Kernfrucht sein: In der Mitte steckt eine Story drin , die sich knapp zusammenfassen läßt. Thomas Kunst gibt seinen Lesern beim Gespräch den Rat: „ Laß dich einfach treiben.“ Er selbst tut das auch. „ Ich lehne lineares Schreiben ab. Ich schreibe intuitiv. „ Dabei hört der in Leipzig lebende Autor, Jahrgang 1965, ständig Musik. „ Von der Musik erhoffe ich die Richtungsänderung meiner Ideen .“ Deshalb liegt hinten in dem Buch eine CD drin.“
Ein Soundtrack als Einladung, vielleicht auch, um dem Text innerlich zu lauschen wie Musik. Man stößt auf laufend wiederholte Wendungen wie „ und was weiß ich noch alles“ oder variierte Sätze, etwa: „ Den Jungen oder das Mädchen zu beschreiben, würde zu weit führen.“ Da werden dann weitere Personennamen eingesetzt.
Nur eins der Indizien dafür, wie sich der Autor gegen jedes konventionelle Erzählen sperrt.
Dabei geht es ihm gerade darum. „ In jedem meiner Gedichte erzähle ich. Ich bin wahrscheinlich der einzige, der das sogar in Sonetten praktiziert.“ Im Roman findet man mehrere dieser Langgedichte und Sonette. Darauf möchte er unseren Blick richten: „ Ich bin dem Geheimnis des Erzählens auf der Spur.“ Dafür verzichtet er bewußt auf Pläne, auf eine in sich logische Handlung. „ Ich will selber von dem überrascht sein, was ich schreibe.“ Es gibt einen Ausgangspunkt: Eltern, zwei Kinder, der Vater die Woche über abwesend, ein Dienstmädchen aus Rumänien, zwei Münsterländer, alle auf einem Anwesen, dahinter ein Wald. Hauptbeschäftigung ist die Jagd. Von da aus entwickelt es sich fort. Man gelangt nach Grönland, begegnet zwei Inuit-Frauen namens Pipaluk und Hulda. Dieser Autor hat eine Vorliebe für diese Art von Namen, bei denen sich sofort ein immenser Assoziationsraum auftut. Eingefügt sind zornige Bemerkungen über den Literaturbetrieb, ein Plädoyer für die vielfach ignorierte „ Natürlichkeit und Ungespreiztheit der Poesie.“
Am Ende landet man in Los Angeles, einfach, weil es der Autor so wollte. Worum es geht? Um nichts Spezielles. Dafür um alles : Liebe, Haß, Angst, vor allem Leidenschaft. Wie uns das geschildert wird, wirkt fremd bis befremdend, unheimlich, verstörend. Zu allererst aber ist dies ein Buch starker Sprachbilder und Wortwendungen. „ Die Unterholzradierungen. Das Älterwerden des Starrens auf einen Punkt“ zum Beispiel. Die „ ersoffenen Bleifiguren der Liebe.“ Oder: „ Die müde Selbstverständlichkeit des Morgenlichtes .“ Dazwischen wird mit fachsprachlich klingenden Substantivierungen ironisches Spiel getrieben. Und irrsinnige, verschrobene Sätze von sperriger Schönheit findet man. Den etwa: „ Der Irrglaube, daß ein verstimmter Flügel in dieser Gegend des Landes zu einer befreiten Verzahnung mit den entgegenkommenden Wünschen eines neuen, übernächtigten Lebens führen konnte, hatte das Zeug dazu, die üblichen Daseinsformen zu irritieren.“ Da hat man zu knabbern und bleibt ratlos zurück. Weil man das Vertraute nicht findet. Dieser Poet will uns in unbekannte Sprachregionen locken.
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