In zwei neuen Büchern führt der Leipziger Autor Thomas Kunst in fantastische Übermutwelten.
Michael Hametner, Sächsische Zeitung, 07./08.11.2015
Gleich mit zwei neuen Büchern beweist der Leipziger Thomas Kunst, welch ein Ausnahme-Dichter er ist.
In der Dresdner Edition Azur gibt’s nach „Die Arbeiterin auf dem Eis“ von 2013 in diesem Herbst eine Lyrikauswahl aus drei Jahrzehnten, nicht unbescheiden mit dem Doppelsinn des Dichternamens im Titel: „Kunst“. Aber die Auswahl aus den insgesamt acht seit 1991 erschienenen Lyrikbänden gibt ihn her. Thomas Kunst dichtet in einer anderen Lyrik-Liga und darf angesichts der vielen lyrischen Dünnbrettbohrer unbescheiden von sich sagen: Es ist Kunst, seit 30 Jahren! Sein erster Band erschien unter dem märchenhaften Titel „Besorg noch für das Segel die Chaussee“ im Reclam Verlag.
Die Gedichte dieser Produktionsphase waren vielleicht noch etwas kürzer, aber den heutigen nicht unähnlich. Kunst bedichtete konsequent seinen eigenen Sinn und fand schon damals so überraschende Zeilen wie: „deine Reitstiefel,/ beklebt noch mit Nebel und/ Kostbaren Wölfen“. Woher nimmt er die Benennung des Worts Sehnsucht mit:„sie ist die/ übertriebenste,/ aber auch die unaufdringlichste/ Strategie der/ Enthaltsamkeit“? Thomas Kunst ist kein Sinn-Brüter, sondern ein Wort-Musiker. Solche Musiker der Sprache, die Tonfarbe, Klang und Rhythmus höher setzen als das Erzählen von Landschaften und Gesellschaften, gibt es einige. Wenn Kunst in der Unterführung einen Flamingo sieht, dann ist das sein lyrischer Ernst, und er lässt den Sprecher wunderbar nüchtern sagen: „… aber was gehst du denn auch am/ Sonntagnachmittag durch eine Unterführung.“ Seine hingezauberten Welten sind mit Worten exakt vermessen und – von innen betrachtet, von der lyrischen Welt des Autors aus – als Ausdruck beruhigter Normalsprache logisch belastbar. Der Leser darf dem Dichter den Flamingo in der Unterführung genauso glauben wie dem Dichterkollegen Wolfgang Hilbig den goldschimmernden Fasan auf dem Kohleberg im Kesselhaus! Das sind keine Parallelwelten, sondern aus der Sprache hervortretende Erscheinungen, die uns Lesern Augen und Poren, Sinne und Horizont öffnen können. Eine Klasse für sich sind die Sonette des Fünfzigjährigen, die der Auswahl gleichsam einen Rhythmus geben. Wer sich mit dem Sonett bei keinem Reim quält, sondern mit ihm tanzt, der kann nicht nur frei musizieren, der kann auch Formen.
Die Langgedichte changieren in die Prosa und sind eine Einübung in den gerade in Österreich erschienenen Roman „Freie Folge“. Darin wird erzählt von der schönen Rumänin Ioana, der Angestellten in dem Haus mit den vielen rätselhaften Kühltruhen, von Ihde, der Besitzerin nicht nur des Waldhauses, sondern auch von 74 Hektar Wald drumrum, und ihrem von Montag bis Freitag abwesenden Mann und den beiden Kindern mit ihrer Lust an der Jagd. Aber es bleibt nicht bei diesem einen Schauplatz: Die Erzählspur führt weiter nach Grönland, Neufundland, Tropical Island und am Schluss in die Hölle einer Appartementwohnung in Los Angeles, in der die Kinder aus dem Waldhaus leben, die jetzt keine Kinder mehr sind. Auch im Roman – übrigens schon der vierte des Dichters Thomas Kunst – sind diese fantastischen Übermutwelten nicht aus buntem Papier. Auch hier sind es luzide Gegenwelten, gestellt gegen das „übertriebene Deutschland“. In Grönland gibt es nicht nur keine Bakterien, dort verstehen sich die Frauen auch bestens, und es gibt generell keine Erbstreitigkeiten. Thomas Kunst lässt auch in diesem Roman die Gelegenheit nicht verstreichen, den Literaturbetrieb zu attackieren. Er plädiert für Natürlichkeit und Ungespreiztheit und schottet die Literatur ab gegen alles Zeitgeistgeblinzel.Seine Art von Literatur – ob in Lyrik oder Prosa – wird von einer handlungssüchtigen, plottigen Sprech- und Erzählweise zum Außenseiter gemacht. Wieso eigentlich? Dann müssen wir uns von Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Nicolas Born, Thomas Brasch, Wolfgang Hilbig trennen. Sie besaßen alle einen eigenen Weltkosmos. In aller Bescheidenheit festgestellt: Thomas Kunst auch.
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