Hans Höller, Volltext, Wien, April 2015
Als ich zum ersten Mal Gedichte von Thomas Kunst las, dachte ich mir: So kann man heute keine Gedichte schreiben. Und als ich sie vom Dichter vorgelesen hörte, dachte ich mir: So kann man seine Gedichte nicht vorlesen. Und dann, nach diesen Schrecksekunden, die länger dauern als normale Sekunden, dachte ich mir: Was für eigentümliche, schräge, verrückte, todtraurige Gedichte, was für ein phantastischer Humor, was für eine ungeläufige, verschroben anmutige Schönheit.
Thomas Kunst ist ein gelehrter Dichter, ein leidenschaftlicher Leser, ein hochgebildeter Bibliothekar, und ein bunter Vogel, kindlich, ein Romantiker, den der Weltzustand beunruhigt, und der es versteht, diese Beunruhigung durch die künstlerische Form in Einsicht zu verwandeln und den Mut der Phantasie ins Spiel zu bringen.
In seinem Roman „Freie Folge“ fand ich sofort zu viel ‚freie Folge’, zu viel erzählerisches Einverstandensein mit der beschriebenen Jagdgesellschaft in Hohendreesen irgendwo in Norddeutschland, um dann zu verstehen zu beginnen, dass dieser Roman auf zweihundertfünfzig Seiten das Einverstandensein mit der Welt als Jagdrevier aus der Perspektive seiner Figuren erzählt. Nirgends mischt sich eine Erzählinstanz ein, die das Nein in diese Welt hineinschreit oder Fragen stellt, und wenn vielleicht doch, dann sehr verhalten, nicht leicht bemerkbar beim Lesen. Das Leben ist Überleben, und moralische oder politische Bewertungen liegen außerhalb des Horizonts oder des Interesses der durchwegs überdurchschnittlich intelligenten Romanfiguren. Die Romansprache gibt uns oft, auch durch die Faktizität der Jagsprache, zu verstehen: Alles ist selbstverständlich und läuft wie geplant ab, wird hingenommen wie „die trophäenorientierte Abschusserfüllung“ in den Wäldern.
Die Familie gehört zur ökonomischen Elite, aber deren Lebensmodell dürfte das bestimmende der einverstandenen herrschenden Klasse weltweit sein.
Der Familiensitz liegt in einem weit ausgedehnten Waldstück. Der Mann ist nur am Wochenende daheim, während der Woche ist er in einem weltumspannenden Finanzunternehmen tätig, die Frau ist die Vorsitzende eines Waldbesitzerverbandes, die Kinder funktionieren perfekt, in der Schule wie zuhause, das rumänische Dienst-Mädchen kümmert sich um die beiden Hunde, auch sie, die Unruhigste, Freieste von allen, fügt sich in diese Ordnung ein, und steht doch an deren Rand. Alles ist ganz normal in diesem Roman, auch die beiden Kinder sind wie andere Kinder, ihre Kinderzimmer sind eingerichtet wie die anderer Kinder, und die Eltern verhalten sich zu ihnen reserviert liebevoll, und jeder in der beschriebenen Familie kommt „alleine klar“.
Nur legt die Mutter geheim in ihrem Zimmer immer wieder einmal das Foto des männlichen Kindes über das der Tochter. Und den Vater beschäftigt, wenn er am Wochenende von seinen globalen strategischen Finanztransaktionen aus der Stadt auf den Familienbesitz heimkommt, die Abrichtung der beiden großen Münsterländer Hunde, die Jagd und die Vorbereitung der Kinder für die Treibjagd. Am Wochenende nimmt er sie manchmal in ein Schießkino mit, eine Art hightech-Schießbude „mit elektronischer Trefferverbuchung“ und mit über die Leinwand jagenden Abschusszielen.
Die Kinder verschwinden, wenn sie ihre Schulaufgaben erledigt haben, mit den Hunden im Wald, bleiben dort lange, kehren aber immer pünktlich zurück. Alles ist auf die Jagd eingestellt, sie wird mit Akkuratesse betrieben, bis hin zu den Simulationen des perfekten Waffengebrauchs, in den die Kinder eingeübt werden. So nebenbei führt das Buch auch den Leser in die Techniken der Jagd ein.
Das fachsprachliche Idiom trägt mit zur Sprachenvielfalt und Genrevielfalt des Romans bei, nur dass die Jagd, wie sie hier betrieben, studiert und perfektioniert wird, keine Romantik kennt, sondern eher an Verhaltenssteuerung, strategisches Kalkül und Naturbeherrschung denken lässt, auch das Abenteuerlichste, eine Hundeschlittenfahrt bei der Jagd auf die kostbaren Polarfalken in Grönland, wird zum Bild instrumenteller Effizienz. Es gelte dabei, „alle Tiere gleichmäßig anzustrengen“: „Du klopfst mit dem Peitschenstiel von links nach rechts auf der Klaviatur des Gespanns sämtliche Leinen durch und erkennst sofort, welches Tier die Absicht hat, die Kraft seiner Begleiter am effektivsten zu nutzen. Durch den Peitschenhieb spürt der Anführer sofort, welcher Hund von ihm durch einen Biß am Hals zur Ordnung gerufen werden muß“. Fügt sich eines der Tiere nicht in die Ordnung der Riemen, wird es herausgeschnitten und seinem Schicksal überlassen.
Das einprägsamste erzählerische Bild für die Naturbeherrschung ist der Fang und die Abrichtung der weißen Polarfalken. Sie werden auf einer hart an die Grenzen des Überlebens gehenden Expedition gefangen – „ausgehorstet“ -, nach Deutschland gebracht und in einer riesigen, eisbedeckten Kühlhaushalle einem geradezu wissenschaftlich betriebenen Abrichtungsverfahren unterzogen, weil der freie Flug des Raubvogels in der Welt der Geschäftemacher eine gewinnbringende Attraktion verspricht – und doch wieder mehr ist und über das Geschäft hinausweist mit seiner Anmut beim Kreisen über den alten Rehspuren und seiner unvergleichlichen weißlich weißen Gefiederfarbe.
Es weht einen kalt an, wenn man das Buch liest, obwohl alle zentralen Romanfiguren, die Familienmitglieder und das rumänische Dienstmädchen, einander freundlich und tolerant gegenübertreten. Auch die zwei scharfen, gut abgerichteten Hunde gehören, unter dem Gesichtspunkt perfekten Funktionierens, zum familiären Ensemble. Das Gespenstische, das in der beschriebenen Normalität hervortritt, dürfte darin liegen, dass hinter allem und in allem das egoistische Überleben steht und unbewusst die modernen Verhaltens- und Denkformen bestimmt. Warum dennoch nicht der Eindruck entsteht, hier würde das sozialkritische Narrativ einer globalen Jagdgesellschaft abgespult, liegt an der sich im Roman behauptenden Sehnsucht, von der jede der einzelnen Romanfiguren affiziert ist. Wenn die moderne Jagd ein durchgehendes Motiv ist, so ist es genauso das nicht stillbare Verlangen nach Liebe, das jeden sich selber fremd werden lässt und ständig neue, fast immer verquere Gestalten und Verwandlungen des Eros hervorbringt.
Am Schluss des Romans ist in den zerfallenden Städten an der Westküste der USA die Jaggesellschaft umgeschlagen in einen Kampf aller gegen alle.
Hier finden wir wieder die beiden gut behüteten und auf den Überlebenskampf vorbereiteten Kinder vom Beginn des Romans. Das Dickicht der Städte und die darin tobenden Kriege ist die gegebene Welt: „Gekämpft wird überall. Fehlende Schnauzen und freiliegende Zähne. Was wären wir in Compton City nur ohne unsere Hunde. In den Sielen des Geschirrs werden ihre Nacken stark. In Bettlaken gehüllt sitzen wir auf unserer Couch“. Schon vorher, im fünften Kapitel, wird dieser „way of life“ in kurzen Einwortsätzen als das noch gegebene und noch geltende zivilisatorische Modell umrissen: „Wie lange ist unser Lebensmodell hier noch aufrechtzuerhalten. Ficken. Wärmen. Essen. Saufen. Einkaufen. Häuser anzünden. Gitarre spielen. Stiefel anprobieren. Briefe lesen. Jagen. Wenn wir damit durch sind, müssen wir uns etwas anderes ausdenken. / Wir beginnen damit, einige der niedergebrannten Häuser wieder zum Verkauf anzubieten.“
Was überlebt, ist der Realitätenhandel, die Ruinenlandschaften werden zu neuen Absatzmärkten. Was bleibt, sind die bewirtschafteten Parkplätze in den umkämpften, zerstörten Städten: „Überall Polizisten und herumliegende Hubschrauber an der Campanella-Siedlung […]. Wir kratzen unser letztes Geld für einen Parkplatz in Stadtnähe zusammen“ – „Campanella-Siedlung“, eine Erinnerung an Tommaso Campanellas „Der Sonnenstaat“, aus welchem das Motto des Romans stammt, eine Erinnerung an das sozialutopische Gemeinwesen des Sonnenstaats, dessen durchdachte Ordnung dem Zufall und der ‚freien Folge’ entgegen gesetzt wird, und ein winziger Hinweis auf das komponierte literarische Verweissystem und die Stimmenvielfalt des Romans.
„Freie Folge“, das sind erzählerische Ansichten vom kriegerischen Endspiel, zu dem die Welt verkommt, ‚freie Folge’, das ist auch die nicht festzulegende und nie und nimmer auszulöschende Kraft des Eros in Thomas Kunsts Roman.
Dessen letzter Satz, gesprochen aus einer im Krieg zerfallenden urbanen Welt, in der oft der Wunsch sich einstellt, „nicht geboren worden zu sein“, ist der um eine andere Geschichte wissende Nebensatz: „wenn ich mitansehen muß, wie du dich hier mit mir, in diesem Teil der Welt, auf unserem Campanella-Tisch, bewegst, wird nie Geschichte sein.“
Das Erzählen in diesem Roman wirkt von Beginn an verstörend und provokant durch seine sprachliche Maßlosigkeit, die nicht endenden Einwortsätze, das unverschämte Kalauern, die inkommensurablen surrealistischen Bilder, die abenteuerromanhaften Partien neben stillen Gedichten, das fachsprachliche Vokabular neben den zivilisatorischen Gleichnissen, wie dem des Hundeschlittens mit seiner Klaviatur der Leinen oder dem unvergesslichen Bild der weißen Polarfalken im Kühlhaus. Dazu die ungehörigen und unzulässigen Wiederholungen nicht nur einzelner Sätze, sondern ganzer Absätze, als würde der Autor auch das Unzureichende, das ästhetisch Unzulängliche, den begeisterten oder wütenden Lesern zumuten, die Freiheit von jeder Folgerichtigkeit.
Man möchte das Buch oft wegschleudern, aber man würde es wieder holen und wieder aufschlagen und würde staunend wieder neu lesen zu beginnen, und entdecken, dass hinter allem, was man zu wissen meint, im Roman noch ein anderes Wissen steht, sodass das scheinbar Fraglose von Anfang ein einziges Fragen ist, ein einziger Einspruch dagegen, dass das unsere Geschichte ist. „Sind Mareros im Viertel, wünschen wir uns oft, nicht geboren zu sein“, denken die beiden auf das Überleben trainierten Kinder, bevor es im letzten Satz heißt: Hier „in diesem Teil der Welt […] wird nie Geschichte sein.“
Neueste Kommentare