In seinem neuen Gedichtband „Estemaga“ sehnt Thomas Kunst sich fort. Wer die Seite lyrikzeitung. de liest, wird einige dieser Gedichte wiedererkennen. 2007 hatte der Leipziger Autor Thomas Kunst hier in Sonetten sporadisch Stellung bezogen, mal spöttisch gegen Kollegen gewettert, mal verzweifelt wild sein Ideal von Poesie gegen Literaturmacher und betriebsspezifische Diskurse verteidigt. Man durfte sich schon wundern über die Heftigkeit, mit der Kunst die Verwahrlosung der zeitgenössischen Lyrik anprangerte und etwa in einem seiner Sonette mindestens elf neuere Lyrikbände verbal in die Tonne kloppte. Mit dem Sonettbuch „Estemaga“ kehren diese „Kampfsonette“ zurück mit anderen, komplementären Gedichten, in denen Kunst den Poesiesound anspielt, den er stattdessen haben will. „Wo bleiben Wahnsinn und Verrücktheit, geile/ Gesänge aus den Überlebensbüchern.// Ich will Gedichte, die ich bei mir trage…“

Gegen Abgeklärtheit und Mittelmäßigkeit der zeitgenössischen Lyrik setzt Kunst die Sehnsucht nach Intensität. Diese Sehnsucht schwingt in beinah allen Gedichten aus „Estemaga“ mit. In einem Redetext, der das Buch beschließt, benennt Kunst die Tugenden dafür: Besessenheit,Leidenschaftlichkeit, Intensität und Kühnheit. Und tatsächlich lassen sich mit diesen Attributen Kunsts Sonette beschreiben. Es sind Sonette, in denen der Sprecher sich an Sehnsuchtsorte wünscht, fort aus der trügerischen Sicherheit Deutschlands. Beirut, Afrika, der skandinavische Norden, um nur ein paar zu nennen, sind dabei Motivgeber an denen sich die Vorstellung entzündet. „Ich habe dir gesagt, am Meer zu leben/ Ist gut für mich“.

Und immer wieder kommt das Meer, das in Kunsts Geographie die zentrale Rolle spielt und von ihm als Gegenwelt und Inspirationsquelle beschworen wird. Dass er dafür die vermeintlich strenge Form des Sonetts gewählt hat, scheint nur auf den ersten Blick seltsam. Denn er füllt diese Form virtuos, kehrt ihre Strenge um und gelangt zu liedhaften Gedichten, die wie improvisierte Musikstücke wirken. Das kann man auf diese Weise selten so schön lesen wie bei ihm. Er geht sogar soweit und hat soviel Witz, ein Sonett zu schreiben, das wie ein ausgeleierter Pop-Song klingt und die mit „Estemaga“ demonstrierte Sonettwut parodiert. Das hat nicht nur Humor, das ist auch notwendig, um Kunst von der Bildungshuberei anderer Dichter abzusetzen.

Eigentlich bleibt nur zu sagen, dass „Estemaga“ eines von den Überlebensbüchern ist, die Kunst haben will. Man könnte noch hinzufügen, dass Bücher wie „Estemaga“ notwendig sind, weil sie am utopischen Wert von Poesie festhalten und das Leben zu verwandeln versuchen, auch wenn dieses Vorhaben fast aussichtslos erscheint. „Nie wieder in die Küche: diese Riffe,/ Das Meer, der Wille und die weißen Schränke./ Ich hab schon vorher am Regal verloren.“