Über Musik und intuitives Schreiben, über Freundschaft und Dankeslisten: Der Dichter Thomas Kunst
Es geht um Tiere. Immer wieder Pferde und Delfine, aber auch anderes Viehzeug, das sich schließlich auf einer Arche zusammenfindet: „Etwa 287 Arten/ Von den Landsäugetieren/ Waren größer oder gefährlicher/ Als Schafe.“ Es geht auch um Kolonien: „dem Elend war nicht/ Die geringste Regierbarkeit anzusehen“, und wer klug ist, versucht „Teile/ Des bis zur Unkenntlichkeit versachlichten Militärs zu/ Blenden“. Aber dann findet sich der Leser am „Quellblech“ des Indischen Ozeans – und plötzlich an einer Tankstelle in Delitzsch-West.
Die Orte und Motive in Thomas Kunsts Gedichten wechseln so virtuos wie die Sprachebenen. Kunst verfügt über das „ganze“ Deutsch: vom nüchternen Bericht über alltagssprachliche Wendungen und spöttische Anspielungen bis hin zu Metaphern, die selten eindeutig auf einen Inhalt zurückzuführen sind. Zusammen bilden sie ein Netz von Bezügen, das zur Suche nach einer Erklärung einlädt, ohne dass ein Erfolg wahrscheinlich wäre.
Zu den Registern der Sprache tritt eine Vielfalt lyrischer Formen. Der Band kennt Prosastücke ebenso wie streng geformte Sonette. Vorherrschend sind sehr frei rhythmisierte Langgedichte. In vielen von ihnen überblendet Kunst die Orte und Zeiten, Erinnerungen und Gegenwart. In „Der Tod lässt wieder nach, mir bleiben Arbeitstage“ finden noch einmal die Schlacht von Tours und Poitiers statt, und zwar in einem Baumarkt. Aber natürlich geht es nicht darum, wie im Jahr 732 die Franken über die Mauren siegten, oder um Baumärkte als Ort der Gewalt. Wenn die drei maurischen Angriffslinien der Gartenabteilung, dem Sanitärbereich und den Fußbodenbelägen entsprechen, so entsteht eine groteske Kippfigur. Die Schlacht wird zum Spiel, aber die Dinge liegen ernsthaft miteinander im Clinch.
Nicht nur im Einzelgedicht führt Thomas Kunst ganz unterschiedliche Ebenen zusammen. Die Motive durchziehen das ganze Buch und werden schließlich im Schlussabschnitt verkürzt – nicht im Sinne einer logischen Auflösung, die von Beginn an geplant gewesen wäre, sondern als weitere Steigerung von Möglichkeiten zur Assoziation. Wie aber stellt Kunst seine Verbindung her? Keinesfalls durch Planung. Der Autor betont: „ Ich weiß morgens noch nicht, worüber ich tagsüber schreibe. Mich würde es lähmen, das gesamt Konzept schon im Auge zu haben. Dann würde ich gar nicht erst anfangen.“ Eine wichtige Rolle spielt die Musik. Im Anhang des Bandes nennt Kunst Platten, die für ihn beim Schreiben unabdingbar waren. „Es scheint so zu sein, dass ich mir für jedes neue Buch einen musikalischen Hauptbegleiter auswähle.“ Diesmal war es „das magische, unglaubliche suggestive Album ‚Undergrund Overlays from the Cistern Chapel‘ von Stuart Dempster. Hier wird mit Muschelschalen, Didgeridoos, Posaunen und tibetischen Becken musiziert, dass einem Hören und Sehen vergeht.“ Als „intuitiver Dichter“ vertraut Kunst „voll und ganz auf die Routenführung der Musik“.
Zwar sind die Erinnerungen an „sozialistische Verwerfungen“ seiner Jugend in der DDR oder heutige Gesten der Macht in seinem neuen Band wichtiger als zuvor: „Ich reagiere auf alles, was sich bewegt.“ Doch handelt es sich nicht um engagierte Literatur. Vielmehr erscheint das Soziale als die Möglichkeit gemeinsamer Vorstellungen. Deshalb spielen befreundete Dichter in den Gedichten und im Anhang des Buches eine wichtige Rolle. Kunst betont: „Was wäre wir ohne Freunde, ohne die sinnlichen und mentalen Verbrüderungen. Nichts! Ich liebe meine Freunde über alles. Ohne ihre Unterstützung wäre es sinnlos, etwas Neues erschaffen zu wollen. Deshalb führe ich sie Buch für Buch neben den Platten, die mich begleiten, in jeder Dankesliste auf. Gemeinsames Schreiben würde ich ablehnen, gemeinsames Musizieren würde ich zum Gesetz erheben.“ Das markiert den Unterschied der künstlerischen Gattungen und Tätigkeiten. Kunst spielt seit seiner Kindheit Instrument – Geige, Bratsche, Gitarre. Klänge entstehen im Ensemble. Aber sie regen zum individuellen Schaffen an, so wie der Austausch mit lebenden wie toten Schreibfreunden Inspiration ist, aber nicht die Arbeit selbst.
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