Das Aufregende geschieht am Rand. Die Substanz gärt an der Peripherie. Formt sich charakterfest. Leise, autonom, kaum wahrgenommen. Edition Rugerup heißt der kleine Verlag der, angesiedelt in der ländlichen Idylle Südschwedens, sich in seinen Publikationen vor allem der Übertragung englischsprachiger Lyrik ins Deutsche widmet. Und was da bisher aus der skandinavischen Abgeschiedenheit still, aber stetig auf den heimischen, lautschreierischen Buchmarkt tröpfelte, wäre, würde es auf diesem mit rechten Dingen zugehen, eine literarische Sensation. Um es etwas lautschreierisch zu formulieren.

Tatsache indes: Rugerup ist ein Verlag, der für ein schlicht exquisites Lyrik- Programm verantwortlich zeichnet. Finden sich darin doch Bücher des potentiellen australischen Nobelpreisanwärters Les Murray ebenso, wie die wunderbaren Gedichte des Kanadiers Don Coles oder des Iren Gabriel Rosenstock- und jetzt, mit „Estemaga“, auch ein Band des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst.

Nun ist ein deutscher Autor bei Rugerup zwar keine Zäsur, aber bisher doch eher die Ausnahme. Eine Ausnahme indes, die sich bestens ins Rugerup- Œuvre fügt. Sowohl, was die literarische Qualität und künstlerische Eigenständigkeit der Texte betrifft, als auch dem- das darf man in diesem Fall mal spekulieren- gerade daraus resultierenden Umstand, dass Thomas Kunst in der deutschen Lyrik das Aufregende ist, das am Rand geschieht, die Substanz, die an der Peripherie gärt. Autonom- ergo, kaum wahrgenommen.

Beredtes Symptom dafür sind nicht zuletzt die zehn(!) Verlagswechsel die seit dessen Debüt 1991 bei Reclam („Besorg noch für das Segel die Chaussee“) Kunsts publizistische Biographie charakterisieren. Ein Nomadentum, geschuldet einem Literaturbetrieb, in dem zunehmend Opportunismus, Mutlosigkeit und Marktzwänge für intellektuelle und stilistische Versandungen, für rapide qualitative Verwüstungen sorgen. Ein Nomadentum, das Kunst- um im Bild zu bleiben- zur Oase der Edition Rugerup führte. Womit sich ein kleiner Kreis schließt- denn auch „Estemaga“ ist im Gesamtwerk des Autors eine Ausnahme, gar eine Zäsur.

Kunsts Poesie zu lesen glich immer auch einem Abenteuer. Da war ein assoziationsreicher Textstrom Wort- Wein- und Frauenverliebter, gleichwohl schwermütiger Lebenshymnen. Darin konnte man baden, ein- und untertauchten, durchaus auch mal absaufen. Zugleich trieben in diesem mäandernden Wortfluss immer auch Inseln einer lakonischen, trockenen Polemik oder die Eleganz kurzer, verspielt- filigraner Verse. Schöne Momente des Innehaltens, bevor, beim Umblättern, neue Wellen über einen fluteten.

„Estemaga“ indes zeigt sich, wie schon angedeutet, ganz anders. Nämlich mit 56 disziplinierten, akkurat gebauten Sonetten. Nun speist sich gerade die Schönheit eines Sonettes, so es gelungen ist, vor allem aus jener marmorierten Kühle und Reinheit, die dieser Gedichtform anhaftet. Faszinierend an „Estemaga“ ist da also weniger, wie souverän Kunst diese Form beherrscht, als vielmehr, wie weit er den für ihn typischen Ton und Habitus seiner Poesie hier heruntergekühlt und in dieses strenge Korsett eingepasst hat. Gerade mit Blick auf die alten Texte darf man vermuten, dass die Distanz, die Disziplin die dieses Einpassen forderte, für Kunst nachgerade provozierend gewesen sein muss. Kunst: „Aus einer Not und Müdigkeit heraus, scheinbar keine anderen Gedichte mehr schreiben zu können, ließ ich mich auf diese strenge und oft sehr eintönige Fortbewegungsart in Texten ein.“

Was jetzt in diesen aber zu lesen ist, ist von Müdigkeit freilich genau so weit entfernt wie von Eintönigkeit. Sicher, „Estemaga“ ist ein Buch gezähmter Leidenschaft. Was aber eine reizvolle Reaktion provoziert: Wie nämlich diese Texte unter ihrer Oberfläche vibrieren, zittern, sich gegen die Zähmung stemmen auf eine Art, dass man beim Lesen glaubt, spätestens auf der nächsten Seite bekommt der schöne Marmor Risse um einen auf der übernächsten um die Ohren zu fliegen. Das zu Lesen ist pure Lust. Spannend, anrührend, abenteuerlich.

Kunsts Themen dabei sind die alten, die seinen: die Liebe, das Trinken, das Sterben. Die Literatur selbst und ihre heutige, hiesige Korrumpiertheit. Der Ton: eine eigentümliche, suggestive Mischung aus Nähe und Distanz, Resignation und Wut, Melancholie und Lebensgier. Und das alles in 56 mal 14 Zeilen, die, ginge es nur mit rechten Dingen zu, Thomas Kunst weg aus der literarischen Peripherie hinein ins Zentrum katapultieren müssten.