Olaf Schmidt, Kreuzer, Oktober 2015

Die Vorherrschaft der Kühltruhen

Eine atemberaubende Zumutung: Thomas Kunsts Roman „Freie Folge“

In seiner berühmten Abhandlung »Von der Kunst, mit Vögeln zu jagen« preist der Stauferkaiser Friedrich II. die Beizjagd als eine ideale Vorübung für die Menschenführung. Einen Raubvogel zu fangen und zu einer lebenden Jagdwaffe abzurichten, erreiche der Falkner nicht durch Zwang und Gewalt, sondern nur mit Einsicht und Verstand. Nicht anders verhalte es sich mit den Menschen. Was haben der mittelalterliche Herrscher und sein Faible für Ornithologie mit Thomas Kunsts gerade erschienenem Roman »Freie Folge« zu tun? So manches. Es fängt beim Titel an. »Freie Folge« ist nämlich, wie wir im Glossar des Romans erfahren, ein falknerischer Fachausdruck, er bezeichnet »Greifvögel, die dem Falkner frei von Baum zu Baum folgen«.

Im Roman selbst spielt außerdem die Herdemerten-Grönland-Expedition von 1938 eine Rolle, die, finanziert von der Hermann-Göring-Stiftung, den seltenen Ger- oder Polarfalken erforschen und einige Exemplare nach Deutschland verbringen sollte. »Polarfalken«, schreibt einer der Expeditionsteilnehmer, »zeichnen sich durch […] einen unbändigen Willen zur Selbstständigkeit und ihre Vertrautheit gegenüber dem Menschen aus.« Ideale Voraussetzung für die Freie Folge, die einerseits Eigenständigkeit, andererseits Willfährigkeit und Vertrauen erfordert. Die Polarexpedition ist aber nur Nebenhandlung, möglicherweise gibt sie bloß die Lektüre einer Figur wieder. Wer in diesem Roman gerade was liest, schreibt, spricht, denkt oder träumt, lässt sich nicht immer so eindeutig feststellen. Kunst hat einen überaus dichten, hochkomplexen Text gewoben, in dem Perspektiven, Handlungs- und Reflexionsebenen ständig wechseln, sich kreuzen, ineinander übergehen und sich ineinander spiegeln. Sein Erzählprinzip ist die Wiederholung. Über die gesamte Erzählstrecke hin kehren einzelne Wörter, Redensarten, ganze Passagen ständig wieder, rhythmisieren gleichsam den Roman, als zuverlässiges Ostinato, aber auch in Variationen. So können dieselben Sätze an einer Stelle als Prosa, ein paar Seiten weiter in Gedichtform erscheinen. Kurzum: Dieser Roman ist für seine Leser eine atemberaubende Zumutung. Die äußere Handlung nimmt sich dagegen einigermaßen überschaubar aus. Ihde lebt mit ihrer Familie auf einem abgelegenen Waldgehöft mit Eigenjagd: »Der Salon. Das Herrenzimmer. Die indirekte Herrschaft der Kühltruhen in allen Etagen.« Ihr Mann arbeitet als Manager einer bedeutenden Firma und lässt sich nur am Wochenende blicken. Tochter und Sohn (beide namenlos) wachsen naturnah und behütet zugleich auf. Obwohl sie mit ihren perfekt abgerichteten Großen Münsterländern die meiste Zeit im Freien verbringen, kommen sie niemals mit zerrissenen oder verdreckten Mänteln und Hosen nach Hause. »Der Wald war also kein ernstzunehmender Gegner für sie.« Zum Fasching gehen die beiden als Bankkaufmann und Übersetzerin. Ihre geradezu perverse Wohlgeratenheit verdankt sich konsequenter Erziehung im Sinne der Freien Folge. Für die Hunde wie für die Kinder gilt: »Erwünschtes Verhalten wurde immer belohnt, unerwünschtes ignoriert.« Der Satz könnte aus einem Lehrbuch der Beizjagd stammen. Bestrafung bewirkt nämlich bei einem Greifvogel nichts, weil er sie nicht auf ein bestimmtes Verhalten zu beziehen imstande ist. Wohl aber kann das Vertrauen, das zwischen ihm und dem Falkner besteht, durch Belohnung erwünschten Verhaltens positiv verstärkt werden. Am Ende des Romans begegnen wir Ihdes Sprösslingen wieder, wie sie sich während ihres »Praktischen Jahrs« in Los Angeles in ihrem Appartement vor eingebildeten oder realen Gefahren verbarrikadieren. Während Ihde sich in ihrer eigenen tiefgekühlten Hölle zu Tode langweilt, überlegt sich ihr Manager-Gatte, ob er eine Affäre mit dem attraktiven rumänischen Au-pair-Mädchen Ionna anfangen soll, und gerät mehr und mehr an den Suff. Ob er tatsächlich mit Ionna zusammenkommt oder die Beziehung nur imaginiert, bleibt unklar. Ionna ist übrigens der einzig halbwegs intakte Mensch in dieser von Gefühlskälte, Kontrollzwang und Verzweiflung beherrschten Welt, was sie als einzige Figur dem Leser ein wenig ans Herz wachsen lässt.Ansonsten ist in »Freie Folge« die Aufklärung in die Endphase ihrer Selbstzerstörung eingetreten. So wie die Beherrschung der Natur eine Entfremdung von der Natur mit sich bringt, führt die Beherrschung des Menschen zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst. Seinen Horkheimer/Adorno hat Thomas Kunst gelesen. Oder auch nicht, das ist gar nicht wichtig. Aber in »Freie Folge« lässt er uns dem »Homo oeconomicus«, dem sich selbst entfremdeten Menschen, unmittelbar beim Denken und Fühlen zuschauen. Und das ist erschreckend und mitunter kaum auszuhalten. Weil wir uns darin selbst erkennen.