Freiheit, Spiel und Sinnlichkeit: Der Schriftsteller Thomas Kunst legt einen überraschenden Lyrikband vor.

Von Christian Eger, Mitteldeutsche Zeitung, 16.12.2017

 

Im vierten Kapitel hebt das Trio ab. Die Schriftsteller Barthelme, Zaimoglu und Kunst lösen die Leinen, die ihren Heißluftballon mit Manhattan verbinden. Kein Ballon wie viele andere, sondern einer, der einer Erdkugel gleicht. Ein Flugkörper, dessen Nylon-Haut voll ist von Wohnlandschaften. In den Falten, der nur zu 70 Prozent aufgeblasenen Kugel läßt es sich leben. Die Autoren richten sich einen Vierseitenhof ein, was nicht so einfach ist. Bei Schieflage lösen sich Pferde und Kühe aus der Ballonhülle und stürzen herab auf New York. Zaimoglu mißlingt das Anbringen von Familienbildern. Barthelme alarmiert die Feuerwehr. Thomas Kunst faßt die Lage zusammen: „beides zusammen ging eben nie, Bilder / Aufhängen und über Amerika das / Gleichgewicht zu halten.“

Donald Barthelme starb 1989. In schlanken, anekdotisch arrangierten Prosatexten brachte der Vater der „new fiction“ die Verhältnisse zum Tanzen. „The Balloon“ heißt seine berühmteste Erzählung. Es ist offenkundig, daß sich Kunst vor dem Amerikaner verneigt, den er mit dem in Kiel lebenden Kollegen Feridun Zaimoglu, seinem Bruder Feri-San, zu seiner poetischen Seilschaft zählt. Die braucht er auch, denn Kunst ist ein Autor der Unruhe. Einer, den es heraus ins Gelände zieht. In die Ränder der Mitte. In Markthallen, Raststätten, Vergnügungswüsten.

Diese Unrast mag nicht überraschen bei einem Dichter, der von der Küste stammt, der 1965 in Stralsund geboren wurde und dessen erster, 1991 bei Reclam in Leipzig veröffentlichter Lyrik- und Prosaband den schönen Titel trug: „Besorg noch für das Segel die Chaussee.“ Aber heute, mehr als 20 Veröffentlichungen darauf, überrascht es eben doch. „Kolonien und Manschettenknöpfe“ heißt der erste bei Suhrkamp verlegte Gedichtband des Autors, der als Bibliotheksassistent im Hauptlesesaal der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig tätig ist.

In sieben Kapiteln führt Kunst vom East River bis an die Wipper, von Malawi bis Markkleeberg. Fast durchweg sind es Expeditionen durch soziale und sinnliche Landschaften, zu denen der 52-jährige einlädt. Auf der Suche nach buchstäblichen Sensationen. Angefangen in Afrika, wo „Kolonien an Körpertemperatur / Unter den Manschettenknöpfen“ dampfen, in einer Gegend, der „die geringste Regierbarkeit“ nicht anzusehen ist. Bunte, sozial tiefenschwarze Wimmelbilder tun sich auf. Die entfalten sich nicht in platter Weltanschaulichkeit, sondern in einer vor spielerischer Weltfreude summenden Sprache, deren Zeilen auf den ersten Blick nicht immer zusammenzupassen scheinen. Hier verlangt er nach Mitarbeit. Kunst holt den Leser in die Mitautorschaft. Er weckt die Wahrnehmungslust, die er selber beweist. Wer hier mitspielt, gewinnt viel. Das Surreale ist ja nicht das Unwirkliche, sondern das vergrößerte Wirkliche.

Gebäude, die Kugelschreibern gleichen. Das Interieur eines Baumarktes, das die Schlacht von Poitiers nachzustellen scheint, in der im Jahre 732 der Einbruch der Araber nach Westen gestoppt wurde. Wenn gelungene Literatur Subversion ist, liefert Kunst die Subversion der Subversion. Die Schräge noch einmal angeschrägt. Für ihn steht fest: „aber die schönsten Dinge / Auf der Welt sind absolute Fehler.“ Von einem Mangel an sinnfälligen Reizen kann denn auch keine Rede sein.

Aber es gibt Ordnungsanker. Nicht nur fügt Kunst in seine Langgedichte wiederholende Zeilen ein, die wie Weberschiffchen hin und her eilen, um die Texturen zusammenzuhalten, sondern er bietet auch überraschende Kontraste. Mitten im Globalgewimmel sind Verortungsgedichte zu finden. Verse wie: „VON ALLEN SEITEN IN SEIN ZIMMER GEHEN, / Wenn es die Statik zuläßt, alle Wände, / Die Türen, Fenster rausgebombt, die Hände / Gekrallt in sächsisches Gestein, zu stehen / Gelingt uns nicht…“ als „folgten wir dem Rückstau der Gewalten.“ Oder die literaturbetriebs-sarkastischen, die Lust an West-gefälligen Ost-Schmökern karrikierenden Zeilen: „Familien, Türme, Tote, DDR, / Verkürzt gesagt, ein Plot muß ungefähr / Performancetauglich sein für Visagisten.“ Oder: „Wer jetzt nicht stirbt, behindert Bestenlisten.“ Verse, die enden: „Wer sprechen übt, darf meine Sprache schätzen / Ich bin im Herbst das Volk und schreib in ganzen Sätzen.“

Eine der Zeilen, die im Gedächtnis bleiben: „Der Tod läßt nach, mir bleiben Arbeitstage.“ Kunst, der Mann von der Küste, ist mit vielen Wasser gewaschen. Er ist nach 1989 der erste ostdeutsche Dichter von Rang, der keiner ostdeutschen literarischen Schule verpflichtet ist. Dieser Autor landschaftet nicht, belehrt nicht, klagt nicht, klagt nicht an. Kein Brecht, Huchel oder Hilbig funkt hinein. Stattdessen wird hier herübergewunken zu Barthelmes Witz, Zaimoglus Sinnlichkeit.

Überall gilt: Leinen los! Das Gedicht: „Wir dezimieren uns auf leichte Weise“ endet: „Beziehungsstatus: es ist kompliziert, / Ich will nicht hören was ich alles hab / Und weiß wohin im Dorf die Flaschen kommen.“ Verse, die man mit Ja unterzeichnet.